“Wo der Dreck entsteht, ist der Welt egal”

Professor Wilfried Sihn, Geschäftsführer Fraunhofer Austria © Fraunhofer Austria

Die Bekämpfung des Klimawandels ist eine Priorität der EU. Durch die Steigerung des Anteils der Energie aus erneuerbaren Quellen und die Verbesserung der Energieeffizienz soll Europa seine Abhängigkeit von Importen fossiler Brennstoffe – die zu einem großen Teil aus Russland stammen – verringern können. Wilfried Sihn, Professor an der TU Wien und Geschäftsführer von Fraunhofer Austria, analysiert im xBN-Interview die Ziele der EU und die Hintergründe der Automobilindustrie auf Elektromobilität zu setzen.

Die EU-Mitgliedstaaten haben sich dazu verpflichtet, die EU bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Zusätzlich haben sie vereinbart, die Emissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 zu senken. Wie realistisch sind diese Ziele?

Der Welt ist es völlig egal, wo der Dreck entsteht und insofern muss man unterscheiden: Es gibt keine Welt-Strategie für Klimaneutralität, sondern es gibt große regionale Blöcke. Wenn man sich die Hauptverursacher, nämlich die Industriestaaten anschaut, dann gibt es einen Europa-Block, einen USA-Block und einen Asien-Block mit Schwerpunkt China. Und in diesen Blöcken ticken die Uhren einfach anders.

Über das Thema Klimaneutralität wird jetzt schon seit rund 100 Jahren geredet, aber es tut sich wenig bis nichts. Aber die Aussagen, die man hört sind relativ klar: Es ist ein ganz wichtiges Thema, aber nur wenn es nichts kostet. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Klimaneutralität nichts kostet, ist gleich null. Letztendlich muss irgendjemand dafür bezahlen. Und es wird sicherlich nicht alles aus staatlichen Quellen kommen können, sonst gehen die Staaten pleite. Aber Fakt ist, dass sich in den letzten Jahren wenig getan hat.

Wie sind die Pläne der EU dann einzuordnen?

Die EU ist hier ein Vorprescher, denn weder in den USA noch in China gibt es ähnliche Initiativen. Ich halte das aber natürlich für ganz wichtig, aber es wird die Welt nicht retten. Die Welt können wir nur retten, wenn alle etwas tun, und zwar konkret.

Was sich in den letzten Jahren geändert hat, ist das Verhalten der EU. In der Vergangenheit hat es schon immer Regularien und teilweise sogar Gesetze gegeben, aber meist ohne wirkliche Konsequenzen. Aber die EU hat inzwischen gezeigt, dass sie ganz klare Regularien, Gesetze und Vorschriften erlassen wird, und zwar sehr dediziert heruntergebrochen auf einzelne Industriebereiche und einzelne Themen. Und die werden mit Strafen belegt werden und diese Strafen werden auch eingefordert werden.

Über das Thema Klimaneutralität wird jetzt schon seit rund 100 Jahren geredet, aber es tut sich wenig bis nichts. Fakt ist, dass Klimaneutralität nicht kostenlos ist.

Wilfried Sihn

Nehmen wir als Beispiel die europäische Automobilindustrie. Denen geht es trotz allen Schwierigkeiten nach wie vor extrem gut und sie verdienen mit ihren alteingesessenen Stinkern nach wie vor gutes Geld. Sie sind die Platzhirsche, haben 100 Jahre Vorsprung bei Technologie und die großen deutschen Hersteller sind nicht umsonst die Weltmarktführer. Seit 2013 gibt es nun ein Gesetz – die sogenannte Flottenverbrauch Regelung. Diese Regel, die seit 2021 gilt, besagt, dass auf Unternehmensebene und nicht auf Brand-Ebene nicht mehr als 95 Gramm CO2 pro verkauftem Auto ausgestoßen werden dürfen. Und jedes Gramm, das mehr ausgestoßen wird, wird mit einer Strafe von 95 Euro belegt. 2018 hatte Volkswagen einen Wert von 125 Gramm. Das heißt, es sind rund 30 Gramm zu viel. Und das mal 10 Millionen verkaufter Fahrzeuge. Da reden wir von hohen Milliardenbeträgen an Strafen. Und das war genau der Moment, wo das Management des Konzerns erkannt hat, dass etwas geschehen muss. Und so kam es zum Umdenkprozess hin zur Elektromobilität.

Wie ist der Schwenk der Automobilindustrie zur Elektromobilität grundsätzlich einzuordnen?

Beim Thema Elektromobilität passt der Spruch „Glaube nur der Statistik, die du selbst gefälscht hast“ sehr gut. Man muss hier sehr genau schauen, was dahinter liegt. Wenn die Automobilindustrie von Elektromobilität redet, dann beinhaltet es zum einen ein klassisches vollelektrisches Fahrzeug, aber es beinhaltet zum anderen auch einen Plug-in Hybrid. Hybride können aber nur eine Übergangstechnologie darstellen, denn es kann nicht die Lösung sein, dass wir mit zwei Antriebssystemen in unseren Fahrzeugen agieren. Ein Hybrid hat genauso einen Auspuff, ein Getriebe und einen Motor. Dass der Trend in Richtung Elektromobilität auf lange Sicht richtig ist, ist überhaupt keine Frage.

Woher soll der Strom dazu kommen?

Das ist ein wichtiger Punkt, denn es ist nicht egal, woher der Strom kommt. Deutschland hat zum Beispiel derzeit rund 50 Prozent Grünstrom. Viele Firmen sagen, dass sie ab nächstem Jahr klimaneutral sein werden, weil sie planen, diesen Grünstrom zu nutzen. Aber irgendjemand muss auch den Dreckstrom benutzen. Und hier liegt der zweite Denkfehler: Wenn wir alles machen, was wir machen müssen – also Mobilität auf Elektromobilität umstellen und weg vom Gas und weg vom Erdöl – dann bedeutet das, dass wir 2030 nicht 100 Prozent, sondern nach Hochrechnungen 150 bis 160 Prozent des heutigen Stromverbrauchs benötigen. Dann reden wir in Deutschland nicht von einem Loch von 50 Prozent, sondern von mindestens 100 Prozent. Und wo dieser Grünstrom herkommen soll, das wird schwierig. In Österreich haben wir durch die Wasserkraft 80 Prozent Grünstrom, aber wir brauchen dann nicht 20 Prozent, sondern 70 Prozent Grünstrom und auch hier weiß ich nicht, woher der innerhalb der kurzen Zeit kommen soll.

Also das ganz große Kernproblem ist die Energieversorgung und Energieversorgung heißt künftig Strom und dieser Strom muss grün sein. Hier fehlen die entsprechenden Konzepte, vor allem, weil wir viel mehr Strom brauchen werden. Also grundsätzlich halte ich den Weg für richtig, aber der Zeitplan passt nicht zu den Maßnahmen.

Welche politischen Hürden gibt es?

Ich nenne ein einfaches Beispiel: Bekanntermaßen bläst in Kärnten relativ viel Wind. Aber Kärnten hat bis dato zwei Windräder. Also so lange unsere Gesetze so aufgebaut sind, dass man über Einsprüche den Bau eines Windrades extrem verzögern kann – die durchschnittliche Dauer für den Bau eines Windrades beträgt derzeit 8 Jahre – dann wird der Wandel nicht realisierbar sein.

Muss Europa als gutes Beispiel vorangehen?

Absolut. Aber es gibt eben Teile der Welt, die anders ticken. In Europa geht der Anteil Elektromobilität relativ schnell nach oben. In China steigt der Anteil auch, aber deutlich langsamer. Amerika ist ein spezieller Fall, da gibt es zwei Welten. Es gibt die Kalifornien- und Florida-Welt, die ähnlich tickt wie Europa. Aber den Farmer im Westen, das interessiert Elektromobilität überhaupt nicht.

Es gibt drei große Verursacher: Mobilität, die Industrie, die der größte Block ist, und der private Bereich. In der Industrie muss ein Wandel stattfinden, aber dieser geht nur langsam voran. Wie soll ein Aluminiumhersteller ohne Gas seine Produktion aufrechterhalten? Und davon sind ja viele weitere Unternehmen abhängig. Wenn ich mit Unternehmen spreche, ob sie einen Notfallplan haben, dann sieht es traurig aus.

Kann das Thema Photovoltaik eine Rolle spielen?

Das ist ein wichtiges Thema gerade, was die Privathaushalte angeht. Es muss kommen und es wird auch kommen, aber es wird anders kommen, als sich das viele vorstellen. Das Dilemma an dem Prinzip Wind und Sonne ist ja: entweder haben alle Sonne oder es hat niemand Sonne. Das ist Stand heute kein Problem, weil wir noch eine überschaubare Anzahl von Photovoltaikanlagen haben. Aber wenn wir Millionen Anlagen haben, dann kann das Stromnetz das nicht mehr managen. Und dann kommt genau das zum Tragen, dass das Netz zu wenig Strom hat, weil keine Sonne scheint oder das Netz hat zu viel und kann das nicht mehr verarbeiten. Das heißt, wir brauchen in Zukunft autonome Systeme mit eigenem Speicher. Wenn man sich also eine Photovoltaikanlage auf das Dach baut, dann sollte man sich gleichzeitig ein eigenes Speichersystem in den Keller stellen, damit man den überschüssigen Strom speichern kann.

Und hier kommt wieder das Auto ins Spiel. Stand heute ist das Recycling von Batterien noch nicht gelöst. Und jetzt versuchen viele Unternehmen, einen Second Life-Zyklus für Batterien aufzubauen. Wenn eine Autobatterie für das Auto nicht mehr geeignet ist, dann hat sie ungefähr noch die Speicherkapazität von 60 Prozent. Wenn ich jetzt mehrere dieser Autobatterien übereinanderlege und kopple, dann habe ich einen wunderbaren Energiespeicher, den man in Privathaushalten nutzen kann. Solche Kreislaufwirtschaftssysteme werden derzeit entwickelt.

Zusammengefasst: Es tut sich sehr viel und es ist auch sehr wichtig, aber Fakt ist, dass Klimaneutralität nicht kostenlos ist.

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