Corona, Klimawandel, Ukrainekrieg, Fachkräftemangel – die ersten beiden Jahre dieses Jahrzehnts werden als eine Zeitenwende in die Geschichtsbücher eingehen. Davon ist der Innovations- und Digitalisierungsexperte Dr. Jens-Uwe Meyer überzeugt. Er vertritt in seinem neuen Buch die These: Die drei Megatrends Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Fachkräftemangel verstärken sich zu einem „Turbowandel“. Deshalb müssen sich viele Unternehmen neu erfinden.
Herr Dr. Meyer, Sie beschreiben im Ihrem neuen Buch den radikalen gesellschaftlichen Wandel weltweit bis 2030. Ist er für die Wirtschaft eine Chance oder eine Gefahr?
Dr. Jens-Uwe Meyer: Beides. Die Unternehmen, die sich nicht verändern, werden dramatisch an Bedeutung verlieren. Diejenigen aber, die die Chancen des beschleunigten Wandels nutzen, werden von den neuen Billiarden-Märkten profitieren, die in den nächsten Jahren entstehen.
Welche Chancen sind das genau?
Der Blackrock-CEO Larry Fink brachte das Anfang des Jahres sehr gut auf den Punkt: Die nächsten 1.000 Einhörner, also Unternehmen mit einer Börsenbewertung von mehr als 1 Milliarde Dollar, werden Unternehmen sein, die preiswerte Verfahren entwickeln, um den Klimawandel zu stoppen. Wir dürfen nicht immer nur auf die Gefahren des Wandels schauen und die hohen Kosten beklagen. Wir müssen den Blick auf die Chancen richten.
Geschieht dies zu wenig?
Absolut! Im Bundestagswahlkampf 2021 hoffte ich stets, dass irgendjemand einmal sagt: „Es entsteht gerade ein neuer gigantischer Markt. Wir müssen bei diesen Zukunftstechnologien die Nummer 1 werden.“ Denn, der Wettbewerb um diese Märkte der Zukunft hat längst begonnen.
Das klingt in der Theorie sehr gut. Doch wie soll das in der Praxis funktionieren?
Das beschreibe ich in meinem Buch. Das Bestehende zu optimieren, genügt nicht mehr. Wir müssen in allen Bereichen der Unternehmen – angefangen bei der Produktpallette, über die Lieferketten bis hin zur Zusammenarbeit in der Zukunft – den „Reset“-Knopf drücken. Also, alles auf null stellen und das Unternehmen neu erfinden. Wir brauchen in den Unternehmen Lust auf Veränderung.
Wie soll das gehen, wenn es immer weniger Fachkräfte gibt, die die Arbeit erledigen können?
Genau das meine ich mit Lust auf Veränderung. Wenn ich zum Beispiel keine Fensterbauer mehr finde, die vor Ort beim Kunden Fenster montieren, muss ich eben neue Fertigungs- und Montageverfahren erfinden: zudem überlegen, ob die Definition der Gewerke im Handwerk überhaupt noch zeitgemäß ist. Gefragt sind digitale Lösungen, durch die Beschäftigte effizienter eingesetzt werden können.
Was für Lösungen sind das?
Beispielsweise Wissensdatenbanken. Einer der größten Zeitfresser in Unternehmen ist das Einarbeiten neuer Beschäftigter; zudem die Rückfragen, die sich durch mangelndes Wissen ergeben. In der Vergangenheit lösten wir dieses Problem, indem es ausreichend hochspezialisierte Fachkräfte gab, die den Kollegen bei Bedarf helfen konnten. Eine Alternative hierzu ist: Deren Know-how in Wissensdatenbanken zum Beispiel in Form von Anleitungsvideos zu hinterlegen, sodass sich geringer qualifizierte Beschäftigte selbst in eine Materie einarbeiten und das Problem lösen können.
Müssen sich nur die Unternehmen neu erfinden oder auch ihre Beschäftigten?
Klare Antwort: auch die Beschäftigten. Was nützt die beste Unternehmensstrategie, was nützen die besten Führungskonzepte, wenn die Beschäftigten die Begeisterung für den Wandel nicht mittragen, sondern sich eher durch das Neue belästigt fühlen? Es braucht zwei Dinge: Einerseits Weiterbildungskonzepte, die den Beschäftigten sehr schnell neues Know-how vermitteln, und andererseits Beschäftigte, die diese Angebote wahrnehmen und sich proaktiv die Kompetenzen aneignen, die sie künftig brauchen.
Sägen Angestellte, die dies tun, nicht selbst an dem Ast, auf dem sie sitzen?
Nein, im Gegenteil. In Zeiten der Veränderung suchen Unternehmen geradezu händeringend nach Beschäftigten, die den Wandel aktiv mitgestalten. Deshalb sägen Mitarbeiter, die an dem Wandel mitwirken, zwar vielleicht an dem kleinen Ast, auf dem sie zurzeit sitzen, doch direkt darunter ist ein dicker Ast, der sie auffängt und auch in den nächsten Jahren noch stabil trägt.
Zur Person: Dr. Jens-Uwe Meyer ist CEO der Innolytics AG, Leipzig und Buchautor.