Je vernetzter die Arbeitsstrukturen und -beziehungen in den Unternehmen sind, umso häufiger müssen Mitarbeiter Personen führen und inspirieren, deren Vorgesetzte sie nicht sind. Dies setzt teils andere Fähigkeiten als das klassische Führen voraus.
In den tayloristisch organisierten Betrieben der Vergangenheit standen die Bereiche weitgehend unverknüpft nebeneinander – gleich Säulen. Und jeder Bereich hatte sein klar definiertes Aufgabenfeld, unabhängig davon, wie er hieß. Und die Mitarbeiter? Auch sie hatten klar umrissene Aufgaben, die entweder in ihren Stellenbeschreibungen definiert oder ihnen von ihren Vorgesetzten übertragen worden waren.
Heute ist dies anders – zumindest in den Unternehmen, die für ihre Kunden komplexe (Dienst-) Leistungen erbringen. Sie sind in der Regel netzwerkartig strukturiert; auch aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung. Und die Bereichsgrenzen und Hierarchiestufen? Sie spielen in der Alltagsarbeit eine immer geringere Rolle – vor allem, weil die Leistungen zunehmend in bereichs- und oft sogar unternehmensübergreifender Teamarbeit erbracht werden.
Komplexe Strukturen erfordern anderen Führungsstil
In einem solchen Umfeld stößt das klassische Führen, das weitgehend auf der qua Position verliehenen disziplinarischen Macht beruht, oft an seine Grenzen. Stattdessen gewinnt das sogenannte laterale Führen an Bedeutung, das auf Vertrauen und Verständigung beruht und danach strebt, durch das Schaffen eines gemeinsamen Denkrahmens die Interessen der Beteiligten soweit möglich zu verbinden. Diese Art von Führung muss sich, weil die disziplinarische Weisungsbefugnis entfällt, auf andere Machtquellen stützen – zum Beispiel
- eine hohe persönliche Autorität und Integrität oder
- ein ausgewiesenes Expertentum oder
- ein gezieltes Networking, das die eigene informelle Machtbasis stärkt.
Dem klassischen Führungsverständnis zufolge ist der Begriff „Laterale Führung“ ein Widerspruch in sich. Denn ihm zufolge ist Führung untrennbar mit einer hierarchischen Weisungsbefugnis verbunden. Trotzdem ist das laterale Führen eine typische Erfordernis der modernen Arbeitswelt, die durch bereichsübergreifende Kooperationen, Vernetzungen und Interdependenzen, flache Hierarchien sowie Team- und Projektarbeit geprägt ist.
Herausforderung: Um Zustimmung werben
Laterale Führung wird nicht selten mit koordinieren gleichgesetzt – so zum Beispiel, wenn in Projekten dem Projektleiter die Aufgabe zugeschrieben wird, neben der Arbeit der Projektmitglieder auch die divergierenden Interessen und Einschätzungen der betroffenen Bereiche zu koordinieren. Doch lateral führen bedeutet mehr. Denn Koordination zielt primär auf ein Aufeinander-abstimmen zum Beispiel der Interessen, Aufgaben und Tätigkeiten ab; Führung hingegen beinhaltet auch ein Einwirken auf Personen und Organisationen (bzw. Organisationseinheiten), damit sie in eine gewünschte Richtung denken und handeln. So zum Beispiel, wenn ein Projektleiter darauf hinwirkt, dass bei der Arbeitsplanung auch das Zeitbudget beachtet wird. Oder wenn ein Experte erreichen möchte, dass ein Bereich oder Team bei der Entscheidung für einen Lösungsweg auch die hiermit verbundenen Risiken bedenkt.
Das zentrale Ziel von lateraler Führung ist also das Erreichen der eigenen oder übergeordneten Ziele (zum Beispiel des Unternehmens oder Projekts). Das Schließen eines Kompromisses kann ein Weg hierzu sein. Nicht selten ist dies jedoch genau das Gegenteil nötig – so zum Beispiel, wenn das Erreichen der angestrebten Top-Ergebnisse eine klare Entscheidung zwischen mehreren möglichen Lösungswegen erfordert.
Entsprechend schwierig ist laterale Führung in der Praxis – auch, weil die an diesem Prozess beteiligten Personen zum Beispiel aufgrund ihrer unterschiedlichen Funktion und Position in der Organisation meist (teils) divergierende Auffassungen und Interessen haben. Das ist, wenn in Unternehmen weitreichende sowie folgenschwere Entscheidungen anstehen, eigentlich stets der Fall. Der eigentliche Unterschied des lateralen zum klassischen Führen ist, dass in solchen Situationen niemand existiert, der sagen kann: „So machen wir das jetzt – basta; ich übernehme hierfür die Verantwortung.“ Entsprechend langwierig sind beim lateralen Führen oft die Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse, da um die Zustimmung oder zumindest Akzeptanz aller Beteiligten geworben werden muss.
Laterale Führung ist immer häufiger gefragt
Trotzdem gewinnt das Thema laterale Führung in den Unternehmen massiv an Bedeutung. Das zeigt unter anderem unsere Studie „Alpha Collaboration – Führung im Umbruch; Perspektiven für die Zusammenarbeit der Zukunft“. Ursachen hierfür sind neben der zunehmend netzwerkartigen Struktur der Unternehmen und der fortschreitenden Digitalisierung, dass die in bereichs- und funktionsübergreifender Teamarbeit entworfenen Problemlösungen immer komplexer werden.
Einige Beispiele, wann im Betriebsalltag laterale Führung häufig gefragt ist:
- Verständigung mehrerer Bereiche einer Organisation aus einem konkreten Anlass. Beispiel: Ein Projektmanager erhält von seinem Vorgesetzten zwar das Mandat, ein Projekt zu starten, er hat aber nur schwache Mittel, um die betroffenen Bereiche „an die Leine“ zu nehmen.
- Verständigung in der Wertschöpfungskette. Beispiel: Ein Bereich muss mit anderen entlang der Prozesskette kooperieren; der Bereichsleiter kann bei Meinungsverschiedenheiten aber nicht auf übergeordnete Instanzen als „Vermittler“ zurückgreifen.
- Verständigung unter Geschäftspartnern. Beispiel: Eine Organisation muss sich mit autonomen Partnern darüber verständigen, wer im Rahmen eines Großprojekts gewisse Leistungen für einen gemeinsamen Kunden erbringt oder wie diese erbracht werden.
Werkzeuge informeller „Leader“
Da beim lateralen Führen das Erteilen von Anweisungen entfällt, bedarf es anderer, eher informeller Instrumente der Führung. Diese lassen sich vier Komplexen zuordnen.
1. Denkmodelle öffnen:
- Auffassungen (also „mentale Modelle“) verändern, damit Verständigung entsteht
- individuelle mentale Modelle erweitern, um kollektive mentale Modelle zu kreieren
- das Lernen 1. Ordnung (Verhalten) ergänzen um ein Lernen 2. Ordnung (mentale Modelle, Werte),
- sondieren der individuellen Interessen, um Ziele, Herausforderungen, Werte/Handlungsmaximen zu klären
- sondieren der individuellen Auffassungen, um Überzeugungen, Arbeitsschemata, Entscheidungsverfahren zu klären
2. Kommunikation verbessern:
- Kommunikation in der Kooperationsbeziehung verbessern
- Verständigungsbrücken schaffen („Partner“ sollen nachvollziehen können, was der andere meint)
- Interaktion, Dialoge fördern
3. Vertrauen auf- und ausbauen:
- Vertrauen als Tauschgeschäft „begreifen“ (Credo: Wer vertraut, dem wird vertraut.)
- Grundlagen von persönlichem Vertrauen herausarbeiten
- Zwänge offen legen
- Regeln der Kommunikation und Kooperation erarbeiten, einführen und kontrollieren
- Vertrauen wachsen lassen (in Feldern, wo das Risiko gering ist)
4. Beziehungen gestalten:
- Aus Unsicherheit resultiert Angst und nicht selten ein irrationales Verhalten; diese gilt es zu reduzieren (zum Beispiel durch Information/Fachwissen, formale Bedingungen, gemeinsame Erfolge)
- In gelebten Beziehungen werden auch Handlungsmöglichkeiten getauscht (d.h. für den jeweils anderen werden Probleme gelöst). Hierfür gilt es einen „Markt“ zu schaffen.
- Durch Coaching/Beratung eine Außenperspektive einzuführen, um Blockaden zu überwinden
- ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Vision kreieren
Laterale Führung kann man lernen
Die Kompetenz, lateral zu führen, fällt nicht vom Himmel, sie muss entwickelt werden – sowohl
- bei Experten und Spezialisten, die in ihrem Arbeitsalltag aufgrund ihres Spezialwissens immer wieder vor der Herausforderung stehen, andere Menschen – auch Ranghöhere – von den Vorzügen oder Risiken einer möglichen Lösung zu überzeugen, als auch
- bei Führungskräften, die wichtige Entscheidungen im Team treffen möchten oder müssen, weil sie bei deren Realisierung auf die aktive Unterstützung ihrer Mitarbeiter, anderer Bereiche oder externer Kooperationspartner/Dienstleister angewiesen sind.
Dabei gilt es jedoch zu beachten: Laterale Führung erfordert gewisse Persönlichkeitsmerkmale – zum Beispiel
- eine wertschätzende Haltung gegenüber anderen Menschen und
- die Bereitschaft, das eigene Denken und Verhalten zu hinterfragen.
Denn ohne diese Grundhaltungen gelingt es weder die Denkmodelle anderer Menschen zu öffnen, noch die Kommunikation mit ihnen zu verbessern. Und noch weniger gelingt es, eine von Vertrauen geprägte Beziehung zu ihnen aufbauen, um die gewünschten Wirkungen zu erzielen.
Die Autorin Barbara Liebermeister ist Gründerin und Leiterin des Instituts für Führungskultur im digitalen Zeitalter (IFIDZ), Frankfurt.