Talentmanagement ist heute in aller Munde. Wir suchen Talente, wir fördern sie. Wirklich? Kann es sein, dass wir sie schon haben und übersehen? Mit diesen – zugegeben vielen – Fragen machten wir uns auf die Suche nach Antworten; und trafen Business Coach Ingeborg Kuca zu einem bemerkenswerten und sehr inspirierenden Interview.
Bringen wir das Beste mit unseren Teams zustande? Oder gibt es da noch Potenzial? Könnte Zusammenarbeit und könnten Ergebnisse besser sein? Nutzen wir die besten Talente und Fähigkeiten, die besten Ideen? Oder nutzen wir nur das Laute, Sichtbare. Wissen wir eigentlich, wer die Leute sind, die wesentlich zum Gelingen von Initiativen beitragen, die sicherstellen, dass alles läuft? Oder hören wir nur jene, die sich im Meeting zu Wort melden? Vielleicht sind die lauten Beiträge gut, aber nicht alles? Vielleicht hätte ein Team-Mitglied gewusst, woran es liegt, dass ein Auftrag verlorenging? Wissen Führungskräfte, wie sie sicherstellen, dass sie auch die stillen, aber vielleicht organisationskritischen Informationen und Beiträge erhalten und einbeziehen können? Oder haben wir vielleicht sogar in der Gesellschaft von heute einen Bias, einen Vorbehalt, der die Beiträge von stillen, introvertierten Menschen geringschätzt?
“Wir sind viel mehr als außen sichtbar wird” sagt Ingeborg Kuca, und setzt fort: “Manche laute Stimmen sind richtig genial, manche nur heiße Luft. Bei manchen sehen wir im Außen wenig, aber es ist viel dahinter. Und wir alle sind in unterschiedlichen Situationen und in jeder Tagesverfassung anders. Haben wir gelernt, das zu erkennen?” So, wir waren auf der Suche nach Antworten und bekommen mehr Fragen. Aber das sollte sich ändern.
“Eigenschaften und Talente zeigen sich bei unterschiedlichen Gelegenheiten auf verschiedene Weise. Zum gelingenden Miteinander, zu gelungenen Projekten braucht es alle Typen. Was derzeit nicht durchgehend sichergestellt ist, ist die kompetente Kombination aller relevanten Inputs und Talente, damit zusammen etwas Besseres generiert wird als wir heute haben. Wenn Projekte besser gelingen sollen, müssen wir nicht nur die lauten, sondern die relevanten Inputs nutzen”, sagt Ingeborg Kuca. Das sitzt.
Von der Mitarbeiterin zur Führungskraft
Wer ist eigentlich Ingeborg Kuca? Nach vielen Jahren im Konzern-Controlling und als Führungskraft studierte sie berufsbegleitend Beratungswissenschaften mit Schwerpunkt psychosoziale Beratung an der Sigmund-Freud-Universität. Im Berufsleben war sie immer die Umsetzerin, hielt sich aber nie für etwas Besonderes, sie sah sich als Unterstützerin im Hintergrund. Dennoch setzte sie die neuen Erkenntnisse zuerst an sich selbst um und wurde von der Mitarbeiterin zur Führungskraft. Mit einem schweren Unfall, den sie überlebte, startete dann ein Nachdenkprozess, der schließlich zur grundlegenden Umorientierung führte. Sie kündigte ihren sicheren Job und machte sich als Unternehmensberaterin selbständig.
Heute trainiert sie Führungskräfte darin, stille Talente und Informationen zu erkennen und passend abzuholen, sie einzubinden und Diversität eine neue Dimension hinzuzufügen. Vielfalt, so sagt sie, bedeutet nicht nur Frauen und Männer und verschiedene Kulturkreise, Vielfalt bedeutet auch laut und leise. “Wir wissen nicht, wie viel der leise Anteil des Wissens ist, aber er ist sicherlich zu groß, um ihn ungenutzt zu lassen.” Ganz offensichtlich hat Ingeborg Kuca ihre Mission gefunden.
xBN: Wie ist das nun mit der Beantwortung unserer Fragen?
Ingeborg Kuca: Die Leiseren zeigen nicht auf. Sie machen konsequent keine Eigenwerbung. Oft weiß man gar nicht, wer die Leute sind, deretwegen Projekte gelingen. Stattdessen haben wir Vorurteile und Stereotypen, eine etablierte Gruppendynamik, Meetings in der Gruppe nach immer dem gleichen Schema – und immer die gleichen Ergebnisse. Manche sagen in Gruppensettings einfach nichts, oder antworten ungern oder mit Allgemeinplätzen. Hier ergänzen erfahrene Führungskräfte mit Vier-Augen-Gesprächen. Dort sagen diese Menschen nämlich oft erfolgskritische Dinge, die bei Projekten nicht selten über Erfolg oder Misserfolg entscheiden.
xBN: Wenn stillere Menschen gerne lernen wollen, mehr aus sich herauszugehen, vielleicht weil sie es für ein Projekt brauchen, das ihnen wichtig ist: Geht das oder sollte es gar nicht erst versucht werden?
Kuca: Menschen verhalten sich in jedem Umfeld anders, mit Freunden, in der Teeküche oder im Meeting. Wir sind da in einer Bandbreite unterwegs. Selbst extrovertierte Menschen sind manchmal in einem Umfeld beispielsweise mit internationalen Topstars einer Disziplin oder bei einem Galadinner, bei dem nur Englisch gesprochen wird, sehr zurückhaltend. Beim internen Team-Meeting sind sie vielleicht die Entertainer. Introvertierte sind im Projekt-Debriefing mit 18 Anwesenden vielleicht still, in einer informellen Unterhaltung mit dem Personalvorstand danach vielleicht sehr gesprächig. Man ist am besten, wenn man das tut, was man wirklich kann, so wie man wirklich ist. Aber sehen wir doch einmal kurz auf ein bisschen Hintergrund: Die Persönlichkeit wird ungefähr bis zur Grundschule ausgebildet und dann kommt noch ein Schub in der Pubertät. Danach ist die Persönlichkeit im Erwachsenenleben relativ stabil. Man muss auch nicht “extrovertiert” werden. Leider ist “introvertiert” als Begriff beinahe ungünstig besetzt, was überhaupt nicht gerechtfertigt ist. Die Gesellschaft hat alle Talente, weil wir alle diese Eigenschaften auch brauchen.
Nach C. G. Jung gibt es die rein Introvertierten oder Extrovertierten gar nicht. Temperament ist an sich ein relativ stabiles Merkmal, und nicht so leicht veränderbar, sagt Gerhard Roth, dennoch gibt es ganz interessante Gestaltungsmöglichkeiten, die bemerkenswerte Entwicklungen ermöglichen. Brian Little unterscheidet dazu die biogenen, soziogenen und ideogenen Antriebsquellen für Verhalten. Biogene Aspekte sind schon bei der Geburt vorhanden. Gerhard Roth schränkt hier ein, dass sie dennoch nicht rein genetisch sind, denn Ungeborene werden natürlich vom Verlauf der Schwangerschaft beeinflusst.
Die soziogenen Aspekte der Ausbildung unseres Temperaments rühren von menschlicher Interaktion her, also von Erziehung, dem familiären und gesellschaftlichen Umfeld. Und jetzt wird es spannend: Die ideogenen Aspekte und Merkmale unseres Temperaments bilden wir aus, wenn uns etwas aus tiefstem Inneren wichtig ist. Dann schaffen wir es auch, uns ganz anders als sonst zu verhalten, ganz anderes Auftreten als sonst an den Tag zu legen und zu tun, was nötig ist. Das gilt für sowohl für die an sich Stilleren als auch für die Extrovertierteren. Wenn es die Situation oder die Sache erfordern, können sonst recht dominante Persönlichkeiten plötzlich ruhig in einer Gruppe sitzen und zuhören – und sonst eher stille Menschen können anlassbezogen oder für eine bestimmte Sache plötzlich aufstehen, eine Gruppendiskussion moderieren, oder einen Vortrag so vorbereiten und halten, dass ein ganzer Saal voller Menschen hingerissen ist. Das sind die ideogenen Aspekte, die Brian Little auch “free traits”, also “freie Merkmale” nennt. Die eignet man sich oft sogar ohne große Schwierigkeit an, weil einem etwas wichtig ist. Das sind aktiv entwickelte Merkmale, nicht weil wir uns absichtlich “umtrainieren” oder anders werden wollen, sondern weil wir es für eine Sache tun. Es ist mehr ein Entfalten von etwas, das was wir ohnedies haben, und wir bringen es zum Strahlen.
xBN: Gibt es eigentlich im Gehirn oder in der Körperchemie einen Unterschied zwischen eher Introvertierten und mehr Extrovertierten?
Kuca: Von Brian Little wissen wir, dass introvertierte Menschen ein höheres Erregungsniveau in sich selbst, im Gehirn haben, sie brauchen nicht viel oder keine Stimulanz von außen. Extrovertierte haben weniger Erregungspotenzial in sich selbst und brauchen deshalb z.B. viel mehr Gesprächspartner, viel mehr Menschen um sich, viele Aktivitäten, lautere Stimmen usw. Introvertierte brauchen das Substanzreiche, das Gehaltvolle, an dem man noch weiter überlegen kann. Sie sitzen in einem Seminar, das sehr gekonnt und eloquent gehalten wird, und haben in einem halben Tag zwei Sätze mitnotiert. Ihr Fazit: Das war nichts, uninteressant. Sie sind nicht leicht zu blenden, sie brauchen und suchen das Gehaltvolle. Sie sehen auch eher hinter eine Fassade und entdecken sehr rasch, wo nichts dahinter ist – und wo wichtige Erkenntnisse dabei sind, die uns weiterbringen. Mehr Extrovertierte brauchen hingegen eher mehr Inhalt, also eher Breite als detailreiche Tiefe – und filtern aus vielen verschiedenen Inputs jene Themen heraus, die also beispielsweise in Marketing-Kampagnen das Potenzial haben, Resonanz zu erzeugen. Sie sehen, wir brauchen beide Qualitäten.
In einer modernen Führungskräfteausbildung ist “Stille” ein wichtiger Teil, wenn wir möchten, dass Führungskräfte das Beste aus ihren Teams herausholen.
Ingeborg Kuca
xBN: Was können Unternehmen tun, um den vielfach ungenutzten Schatz der stillen Talente besser zu heben?
Kuca: Das ist gar nicht so schwierig. Es beginnt damit, Bewusstsein zu bilden. Das geht schon mit einem einzelnen Workshop für Führungskräfte, bei dem man spielerisch in die Welt der Stillen eintaucht und lernt, mit welchen Strategien wir die Beiträge der Stillen am besten heben können. Alternativ oder auch begleitend gibt es die Möglichkeit zu Einzelcoachings, sowohl für Führungskräfte, die stille Menschen besser führen wollen, als auch für stille Menschen, die interessiert sind, ihr bestes Potenzial zu entwickeln. In einer modernen Führungskräfteausbildung ist das ein wichtiger Teil, wenn wir möchten, dass Führungskräfte das Beste aus ihren Teams herausholen. “Sag‘ halt auch was” ist nicht der Weg. Da reicht bereits ein Seminar, um zu lernen, wie wir den wichtigen Input der Stillen abholen, wie man das am besten macht.
xBN: Haben Sie auch einen Buchtipp für Interessierte?
Kuca: Ja, mein eigenes Buch – an dem schreibe ich aber gerade erst. Das dauert also noch ein bisschen. Inzwischen empfehle ich “Das Pinguin Prinzip” von John Kotter. In dem Buch geht es darum, wie eine Pinguin-Kolonie es schafft, eine existenzielle Bedrohung zu überleben. Suchen Sie Fred in dem Buch – und seine Rolle. Fred ist einer der Stillen.
Ingeborg Kuca illustriert ihre Aussagen immer wieder mit außergewöhnlichen Utensilien – als Beispiel ein Bild zur Frage des Potenzials von Menschen, die still im Meeting sitzen und im persönlichen Gespräch aufblühen. Wie sieht dieses Objekt aus, wenn wir es aufmachen? Wie sind Menschen, wenn sie aufmachen? Wir tauchten in ganze Geschichten ein, die überraschende Wendungen nehmen und erleben lassen, wie in einem spielerischen und fröhlichen Umfeld aus Wettbewerb Zusammenhalt wird. Irgendwie war das weniger ein Interview als vielmehr ein spannendes Abenteuer.
Das Gespräch führte xBN Herausgeberin Isabella Mader.
Weitere Informationen zu Ingeborg Kuca gibt es hier.
Im Text erwähnte Literatur:
Gerhard Roth: Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern.
Brian Little: Mein Ich, die anderen und wir.
John Kotter: Das Pinguin Prinzip