Viele große Unternehmen wollen aus dem industriegesellschaftlichen Silo des hierarchischen Managements ausbrechen, wenige tun es auf erfolgreiche Weise. Welser Profile, ein Industriebetrieb ursprünglich aus dem 16. Jahrhundert, mit Sitz in Ybbsitz, Niederösterreich, veränderte sein “Betriebssystem” in den letzten 5 Jahren und verdoppelte zeitgleich den Umsatz auf 1 Milliarde Euro. Verdachtsweise ist das kein Zufall. WelserOS steht für Welser Operating System, und für eine neue Art zu managen. Mit Inspiration aus Elementen der Holokratie entwickelten Belegschaft und Geschäftsführung gemeinsam einen neuen, und offensichtlich erfolgreichen Weg des Managements, der nicht nur Engagement, sondern auch wirtschaftlichen Erfolg generiert.
Im malerischen Kernland Niederösterreichs treffen wir im architektonisch sehr ansprechenden Begegnungszentrum von Welser Profile deren CFO und kaufmännischen Geschäftsführer Nicolas Longin, eines der Masterminds hinter der erfolgreichen Transformation. Welser besteht seit fast 360 Jahren und produziert seit den 1960er Jahren industriell Metallprofile, mit heute 2.700 Mitarbeitenden an 5 Produktionsstandorten in Österreich, Deutschland und den USA, und betreut seine Kunden mit 12 Verkaufsniederlassungen weltweit. Profile werden in vielen Produkten und Märkten eingesetzt. Die Palette reicht vom Waggonbau über Fenster und Fassaden, Innenausbau bis zu Solaranlagen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Begeisterte Menschen formen Möglichkeiten für Generationen
Wie kam es zu diesem Leitspruch und zur erfolgreichen Verwandlung? Die neuen Geschäftsführer (eine Kombination aus Welser Familienmitgliedern und einem externen GF) kamen 2018 gemeinsam zur Überzeugung, dass die Management-Methoden, die den Industriebetrieb im 20. Jahrhundert erfolgreich machten, an die dynamische und komplexe Welt des 21. Jahrhunderts angepasst werden müsste, um das Unternehmen weiterhin erfolgreich zu führen. Einiges an Gesprächen und Konzepten später sollte es losgehen.
Die Geschäftsführung und die Belegschaft verbrachten in über 60 Workshops viel Zeit miteinander, um über die Vergangenheit und die Zukunft zu sprechen. Zunächst wollte das Unternehmen herausfinden, welche Werte und Aspekte der Vergangenheit sie erfolgreich gemacht haben und bewahrt werden sollten. Für die Zukunft legten sie fest, wie Werte, Zusammenarbeit und Erfolg in einem Umfeld der Digitalisierung, Globalisierung und des Klimawandels in Zukunft aussehen sollten. Das Ergebnis dieser Workshops war das “Rückgrat” des Unternehmens, aus dem ein neues “Betriebssystem” entstanden ist: WelserOS steht für Welser Operating System. Der Veränderungsprozess, der dafür nötig war, wurde “1Plus” genannt und an die Kick-off-Tage und was seitdem gemeinsam erreicht wurde, erinnert ein Foto, das eine Wand im neuen Begegnungszentrum ziert.
WelserOS
Wie funktioniert dieses neue “Betriebssystem” nun also genau? “Ein Prozess erstreckt sich zumeist über mehr als einen Bereich. Bei Projekten ist das ohnehin die Normalität. Wenn wir da jedes Mal zur Abteilungsleitung hoch delegieren, dann zum anderen Bereich hinüber, dort wieder zu den involvierten Expertinnen und Experten – und das Ganze wieder zurück, nur um einen einfachen Sachverhalt zu klären oder zu entscheiden, dann werden wir in der dynamischen Welt von heute viel zu langsam sein. Wir müssen uns weniger mit uns selbst und mehr mit Lösungen beschäftigen. Deshalb managen wir die Organisation auf der Basis von Rollen, teilweise unabhängig von den Bereichen. Die jeweilige Projektleitung oder der Process Lead erarbeitet die Lösungen mit den Teams und entscheidet auch gemeinsam mit den Teams. Wir haben aber natürlich dennoch Führungskräfte in einer Linienstruktur, die aber Führung neu begreifen, nämlich als Ermöglichung und “Empowerment”, die sich mit ihren Teams austauschen und Ziele und Visionen diskutieren, sodass alle im täglichen Handeln bessere Entscheidungen treffen können. In den bisher fünf Jahren hat sich das neue Managementmodell vom Finanzbereich auf den IT-Bereich ausgebreitet und geht aktuell auf alle Büro-Arbeitsbereiche über.
(Noch) nicht zur Gänze erfasst wurde die Produktion. Dort laufen sehr dynamische, optimierte Prozesse, die die Belegschaft aber auch selbst entwickelt und optimiert. Beim Abarbeiten gelten diese optimierten Prozesse dann aber auch. Damit wird auch Compliance mit den vielfachen Normen sichergestellt, nach denen die Produkte von Welser zertifiziert sind (sein müssen).
Die Personalvertretung trägt das neue Management-Modell übrigens mit, die Zufriedenheit ist hoch, die Fluktuation sehr gering. Dazu trägt allerdings nicht nur die neue Art des Arbeitens selbst bei, sondern auch die Behutsamkeit, die Wertschätzung und der Respekt, mit der Änderungen gemeinsam erarbeitet werden.
Was dauert hier eigentlich so lange?
Gary Hamel, Michele Zanini, Steve Denning, alle Vordenker modernen Managements, fragten sich selbst und die versammelte Management-Community beim Global Peter Drucker Forum im November 2022: “Wir reden jetzt seit weit über 10 Jahren davon, dass modernes Management Unternehmen zukunftsfähig aufstellt und nachweislich erfolgreicher macht und wie das aussehen sollte. Und wo stehen wir da? Nur sehr wenige Unternehmen schaffen diese Überfuhr. Was dauert hier eigentlich so lange?” Nicolas Longin hat dazu eine Antwort: “Natürlich dauert die Veränderung des Management-Modells einige Zeit. Wir können eine neue Art zu managen ja nicht über Nacht, schon gar nicht top-down treiben und noch weniger “einführen”. Es begann bei Welser mit vielen Einzelgesprächen, mit dem Sammeln von Gedanken und dann mit dem Entwickeln einer gemeinsamen Idee. Longin: “Die Veränderung der Art, wie wir arbeiten, zusammenarbeiten und Wert generieren, ist eine tiefgreifende Veränderung, die Fragen aufwirft und in einem solchen Prozess ist es wichtig, dass alle miteinander im Gespräch bleiben, um Klärung und Lösungen herbeizuführen. Wir sind einander hier menschlich sehr verbunden und es war wichtig, dass sich alle angemessen in einer neuen Welser-Welt wiederfinden und sie mitgestalten. Es gibt Menschen, die Projekte leiten und Verantwortung übernehmen wollen, und andere möchten das nicht. Das ist völlig normal und entspricht der natürlichen Verteilung von Persönlichkeiten. Es gibt viele verschiedene Arten von Talenten, und wir brauchen sie alle. Menschen, die Verantwortung übernehmen wollen, bekommen die Gelegenheit und blühen richtig auf, bringen außergewöhnliche Leistungen. Und durch die vielen Gespräche wurden wir nicht nur besser, sondern haben miteinander ein Umfeld von Vertrauen geschaffen, in dem so viel mehr gelingt und so viel mehr Freude entsteht, die auf Geschäftspartner und Kunden überspringt.”
Wir können eine neue Art zu managen nicht ‘einführen’. Wir müssen sie gemeinsam entwickeln.
Nicolas Longin
Das neue “Betriebssystem” wurde in der Finanzabteilung zuerst für ein Jahr ausprobiert, dann wurde abgestimmt. Bemerkenswerte über 90 Prozent stimmten dafür! Daraufhin war das Interesse weiterer Bereiche geweckt und die Reise ging weiter.
Wie geht es dann beispielsweise einem Geschäftsführer, wenn er in einem Projekt-Meeting sitzt, und plötzlich jemand anderes die Entscheidungen trifft? “Man muss sich zurückhalten. Es ist natürlich schon noch immer so, dass die Geschäftsführung zuletzt unterschreibt und für das Ergebnis des Unternehmens geradesteht. Wenn ich also finanzielle oder rechtliche Bedenken bei Entscheidungen hätte, würde ich das natürlich in die Diskussion einbringen, aber sonst entscheidet das Team oder die Projektleitung. Gesamthaft folgt das dem klaren Prinzip, dass die Entscheidung und die Verantwortung bei der gleichen Person verortet sind. Alles andere generiert ungünstige Entwicklungen”, so Longin.
Denken in Generationen
Als Familienunternehmen liegt der Schwerpunkt auf der Langfristigkeit und so ist das Denken in Generationen Teil der DNA. Das wurde besonders bei einer Übernahme in den USA deutlich. Nach einer umfangreichen Due-Diligence-Prüfung wurde die Übernahme den Senior-Eigentümern des Unternehmens vorgestellt. Die Geschäftsführung wurde gefragt, welche Auswirkungen diese Akquisition auf die Interessen ihrer Enkelkinder hat.
Die langfristig nachhaltige Wirtschaftsweise von Welser überzeugte schließlich, zumal Welser selbst in der aktuell 11. Generation das Unternehmen führt und die gleichen Überlegungen in Bezug auf das Morgen und die kommenden Generationen anstellt. Wie bei kaum einem anderen Werkstoff ist der Vorteil von Metall unter anderem, dass er ohne relevanten Verlust recycelt werden kann. Altmetalle sind begehrte Rohstoffe von bemerkenswert hohem Wert und werden immer wieder zu neuen Produkten gemacht. Welser interpretiert Nachhaltigkeit im ursprünglichen Sinn, also neben ökologischen Gesichtspunkten auch mit den Säulen der Wirtschaftlichkeit und der sozialen Verantwortung. Die Zukunftsorientierung und Generationen-Verantwortung lebt Welser auch als Ausbildungsbetrieb für laufend 120 Lehrlinge in Österreich in 3 Lehrjahren (in Summe bereits über 1.000) und 200 Praktikantinnen und Praktikanten jedes Jahr mit einem eigenen Ausbildungszentrum. Die Palette an Lehrberufen reicht von Maschinenbautechnik, Prozesstechnik, Zerspanungstechnik über Elektrobetriebstechnik und Technischem Zeichnen bis zu Mechatronik und IT-Technik.
Beyond Budgeting
Wie verträgt sich Rollen-basiertes Management, das in Netzwerken arbeitet, mit einer klassischen Budgetstruktur? Der Grundgedanke des Beyond Budgeting Konzeptes folgt der Idee, dass Abteilungs-“Silos” auch über Budgets aufrechterhalten werden: Wenn Budgets hierarchisch aufgebaut sind, und etwa KPIs und bestimmte Ergebnisse aus einem bestimmten Budgettopf erwartet werden, führt das dazu, dass Budgetverantwortliche auf ihren Leuten “sitzen” und erfolgskritische, bereichsübergreifende Zusammenarbeit kaum stattfindet. Wir wollten wissen, ob WelserOS “klassisch” budgetiert und bilanziert – oder ob es auch hier eine Veränderung gab. Nicht zuletzt ist unser Gesprächspartner Nicolas Longin auch CFO und kaufmännischer Geschäftsführer. “Ich glaube nicht an klassische Budgets. Das funktioniert doch schon lange nicht mehr und entspricht nicht dem Lauf der Welt.” Interessant. Wie geht Welser also vor? Longin: “Wir bilanzieren und berichten natürlich entsprechend der rechtlich vorgesehenen Rahmenbedingungen. Innerhalb des Unternehmens gibt es allerdings keine klassischen Abteilungsbudgets, die kleinteilig heruntergebrochen werden. Langfristige, fixe Ausgaben etwa für Großprojekte oder Personal sind natürlich entsprechend reserviert, aber für alles andere halten wir einmal im Quartal, bei Bedarf öfter, ein Review, bei dem für die nächsten Monate disponiert wird, und zwar typischerweise auf Projektbasis und nicht auf Abteilungsbasis.” Das erinnert tatsächlich sehr an das Beyond Budgeting Konzept, wie es etwa auch von Google, den Schwedischen Handelsbanken oder Toyota verwendet wird. “Wir sind dadurch viel flexibler und schneller, arbeiten rollierend und vermeiden Verschwendung, weil wir statt Budgets “aufzubrauchen” nunmehr gezielt investieren.” Das jährliche Investitionsvolumen von Welser Profile liegt übrigens bei 70 Millionen Euro.
Neueste Technologien: Digitalisierung und KI
Zielrichtung von Technologie-Einsatz sind Effizienz, Ressourcenschonung und Benutzerfreundlichkeit. Umsetzungsprojekte betreffen laufend die gesamte Supply Chain. Beispielhaft: softwarebasiertes Werkzeugmanagement, Automatisierung in den Produktionsbereichen, Apps zur Unterstützung z.B. im Rüstprozess, Monitoring und Sensortechnik zur Qualitätsprüfung oder etwa für Predictive Maintenance (präventive Wartung). Künstliche Intelligenz kommt derzeit in zwei Bereichen zum Einsatz: 1. Forecasting aus der Verknüpfung von internen und externen Daten, auch um Muster zu erkennen und zu lernen. 2. Optimierung von Maschinen-Einstellungen auf der Basis von Sensordaten. Mit einem Investment in das Startup Resourex wurde ermöglicht, dass Stahl Coils über eine Plattform bezogen werden und Vormaterialbedarfe über den Spotmarkt auf Resourex ausgeschrieben werden können.
Fachkräftemangel: Das ist doch derzeit für alle Unternehmen gleich schwierig, oder?
Nicht wirklich. Die neue Art des Managens spricht sich herum. “Das Einzugsgebiet, aus dem wir auch Management rekrutieren, hat sich von 30 Kilometer Umkreis auf den Radius zwischen Salzburg und Wien erweitert.” Wir haben nachgerechnet: Gresten – Wien: 165 Kilometer, Gresten – Salzburg: 208 Kilometer. Job und Bezahlung gibt es auch anderswo. Der Management-Stil gibt letztlich den Ausschlag für die Entscheidung, Welser anderen Arbeitgebern vorzuziehen und zu übersiedeln. Welser hat allein im vergangenen Jahr 100 neue Mitarbeitende und 30 Lehrlinge aufgenommen – trotz Fachkräftemangels und einer Adresse am Land. Nach einer Stunde Interview versteht man, warum das so ist.
Fazit: Einfach einmal anfangen
Was uns im 20. Jahrhundert erfolgreich machte, funktioniert heute nicht mehr. Das gilt nicht nur für die Technologie, sondern auch für die Art, wie wir managen und führen. Erfolgreiche Führung ist heute ein gemeinsames Projekt. Veränderung wurde im 20. Jahrhundert viel mit der “Brechstange” herbeigeführt. Gerüchteweise gibt es bis heute solche “Change”-Projekte, die Unternehmen mehr beschädigen als verbessern. In einer Welt von Komplexität und dynamischer Entwicklung ist Management durch wenige Einzelpersonen notgedrungen unterperformant, weil zu keinem Zeitpunkt ein paar wenige Leute alle nötigen Informationen überblicken und abschätzen können – und natürlich auch nicht die besten Ideen und Umsetzungskraft haben können. Wir brauchen alle, um schnell genug, erfolgreich – und zufrieden! – zu sein.
Das Interview führte xBN Herausgeberin Isabella Mader.