Was ist Kreativität? Und kann eine KI kreativ sein?

Eine im Juli 2023 veröffentlichte Studie der University of Montana testete künstliche Intelligenz nach einem standardisierten Testverfahren in die Top 1 Prozent der Kreativen. Kann das sein? Wir haben bei Kreativitätsforscher Karl Testor nachgefragt.

xBN: Vielen Dank für Ihre Zeit. Wie kamen Sie zur Kreativitätsforschung und was ist Kreativität eigentlich?

Karl Testor: Ich selbst kam auf Umwegen dazu – genauer gesagt über meinen Doktorvater Giselher Guttmann. Ursprünglich hatte ich mich mit dem etwa 2007 aus den USA kommenden Begriff Neuroleadership beschäftigt. Prof. Guttmann hat mich dann mit einem Werk über kognitive Psychologie neugierig gemacht, wie denn das Denken funktioniert. Relativ rasch stellte ich fest, dass mich folgender Bereich interessierte: Wie entsteht Kreativität? Am Beginn definiert man dann die Begriffe, also Kreativität. Erstens ist wichtig, dass es etwas Neues gibt. Das allein macht Kreativität aber nicht aus. Kreativität beinhaltet einen wesentlichen Aspekt mehr, nämlich die Zuschreibung des Wertes durch andere. Wenn jemand etwas Neues erfindet, wird erst durch die Reaktion anderer Menschen „bewertet“, ob das Erfundene ein Hirngespinst oder genial ist. Kreativität wird allgemein akkordiert so definiert, dass es sich um etwas Neues oder Überraschendes handelt, das einen Wert oder einen Nutzen hat. Wenn wir überlegen, wen wir für kreativ halten, dann sind das Personen, die Großartiges gemacht haben. Also wir schreiben deren Taten und Werken einen Wert zu. Die Zuschreibung von Kreativität ist ein soziologischer Prozess. Das ist auf eine Art gesellschaftlich vereinbart, denn die einen können sagen „Das finde ich jetzt nicht besonders kreativ“, während andere sagen können „Sensationell!“ Worauf man sich einigt, ist fast ein Mehrheitsentscheid. Was wird also als kreativ bezeichnet? Eine solide Definition, die überprüfbar wäre, gibt es genaugenommen nicht, weil dieser soziale Prozess keinen Formalkriterien folgt, sondern individuell beurteilt wird. Das ist auch eine bleibende Herausforderung in der Kreativitätsforschung. Daher wurde die Forschungsfrage in meiner Dissertation präzisiert, um eine von soziologischen Prozessen entkoppelte Antwort geben zu können: Wie ist Neues im Denken möglich? Also auch: Was passiert im Gehirn? (Anm. d. Red.: Buchpublikation dazu siehe unterhalb dieses Beitrags).

xBN: Wie testet man Kreativität? Ist das überhaupt möglich?

Karl Testor: Um herauszufinden, wer hochkreative Personen sind, kann man verschiedene Ansätze wählen. Eine Möglichkeit sind Peer-Befragungen. Dazu wählt man Personen aus mit einem gemeinsamen Berufsfeld, die fachlich beurteilen können, ob eine Leistung in ihrem Feld kreativ ist und die das auch begründen können. Diese befragt man dann, wer in ihrem Feld als kreativ eingeschätzt wird und warum. Man versucht dann analytisch herauszufinden, was es ausmachte, dass eine Leistung als kreativ eingeschätzt wurde. Dazu ist also immer die Meinung anderer notwendig. Wie aber verhält sich das für Menschen, die während ihres Lebens nicht erfolgreich waren, deren Kreativität und Erfindungen oder Werke zu ihrer Zeit nicht anerkannt wurden – aber Jahre oder Jahrzehnte später plötzlich sehr wohl? Was waren diese dann anderes als höchst kreativ und der eigenen Zeit voraus? Dieser soziale Prozess der Bewertung kann also auch über die Zeitspanne ausgedehnt gedacht werden. Das bedeutet, dass manchmal erst sehr viel später eine Leistung als kreativ erkannt oder anerkannt wird. Das ist auch denkbar und zeigt, wie schwierig die Testung von Kreativität ist, besonders wenn wir von außergewöhnlicher Kreativität sprechen.

xBN: Lässt sich messen, wie es zu einer Kreativleistung kam? Das eine ist ja die Überraschung, das andere die Beurteilung Dritter – aber da es geht doch bereits um die Wirkung von Kreativität.

Karl Testor: Genau das ist die Forschungsfrage, mit der ich mich beschäftigt habe – und immer noch beschäftige. Ich stelle also die Frage: Wie ist Neues im Denken möglich? Damit wird auf die Voraussetzung von Kreativität fokussiert, indem man den Bewertungsprozess ausklammert. In meiner Forschung habe ich verschiedene Theorie-Modelle und anatomische Grundlagen herangezogen, um zu überprüfen, welche Faktoren überhaupt beeinflussen können, dass Neues entsteht. Das verbindet damit beispielsweise die Funktionsweise neuronaler Schaltkreise, den Aufbau unseres Nervensystems, wie unser Gehirn funktioniert, bis hin zu dem, was wir eigentlich als unser Wissen oder unsere Erfahrung verstehen. Wir sitzen jetzt hier in einem Café, da laufen gewisse Standardschemata ab. Eintreffen, Garderobe ablegen, etwas bestellen, ein Gespräch führen. Im Psychologischen würden wir das als Skript bezeichnen, also eine Art Drehbuch. Diese Skripts haben wir auch gelernt – als soziales Lernen. Mit Skript-Irritationen kann ich es beispielsweise schaffen, dass ich einen gewohnten Ablauf so störe, dass plötzlich neue Verbindungen, Ideen, Reaktionen entstehen.

xBN: Ist das nicht auch in der Nähe von einem Verständnis, was Humor ist? Kabarettisten etwa biegen mitten in einer Geschichte überraschend unorthodox ab – und dann findet man das oft lustig.

Karl Testor: Richtig. Die Überraschung ist das Unerwartete, auf die wir dann mit Lachen reagieren. Bezüglich Humors ist im Zusammenhang mit Kreativität noch ein Punkt interessant. Lachen hängt ja stark mit Sympathie zusammen. Die Person in einer Runde, die andere zum Lachen bringt, ist zumeist auch beliebt und steigt so in der sozialen Hierarchie. Humor ist dabei Kreativität mit Spaßfaktor für die anderen. Das ist ein wichtiger Punkt. Damit Neues entstehen kann, überwindet das Gehirn die Standard-Prozesse, die Skripts. Das braucht manchmal eine gewisse Zeit oder einige „Schleifen“, damit Verzögerungsmechanismen im Denken überwunden werden. Beim Generieren von Neuem geht es darum, die Schranken der Skripts zu überwinden. Eine humorvolle Person stößt das von außen an. Wollen wir das jetzt in der Arbeitswelt nutzen, um Kreativität zu erzeugen, dann gibt es verschiedenste Ansätze. Aber man kann Kreativität auch stören oder zerstören: Zeitdruck, Hektik, permanentes Multitasking, nicht bei einer Sache bleiben, sondern so rasch springen, dass sich Gedanken nicht einmal verbinden lassen. Es blockiert auch oft die Lösung, wenn man zu schnell und zu intensiv an etwas dran ist, weil das Denken unter Stress verengt. Wir haben quasi einen „Tunnelblick“. Wenn wir eine Sache hingegen liegen lassen und einstweilen an etwas anderem arbeiten – und allenfalls am folgenden Tag darauf zurückkommen, oder oft schon nach einer Pause von 10 bis 15 Minuten, kommen wir plötzlich zu Lösungen wo davor nur das Problem war. Beim verbissenen Dranbleiben schaffen wir das oft nicht. Was ist also nun förderlich für Kreativität? Das hat mit sogenannten Aktionspotentialen im Gehirn zu tun, die gewisse Verbindungen forcieren und das Abbrechen anderer Verbindungen unwahrscheinlicher machen oder limitieren. Das heißt, wir sollten möglichst unverkrampft in ein Thema hineingehen, um unser kreatives Potenzial möglichst ausnutzen zu können. Entspannung, Offenheit. Spaß!

xBN: Das leuchtet ein. Wie stellt man nun beispielsweise in stark kompetitiven Umfeldern solche Bedingungen her?

Karl Testor: Nun landen wir bei der Organisationskultur. Wenn man in ein Unternehmen hineinkommt, weiß man sehr schnell, wie unkreativ oder kreativ die Leute dort sind. Das spürt man. Und dieses intuitive Gefühl kommt eben daher, weil sich Kultur im Verhalten ausdrückt. Man nimmt die eine Kultur wahr, wenn man beispielsweise in einem Meeting sitzt oder einen halben Tag in einem Großraumbüro. Man merkt das auch an Kleinigkeiten wie einer Reaktion in einer Besprechung, wo ein neues Thema aufkommt: Die oder der Vorgesetzte sagt: „Das hat hier nichts zu suchen“ versus „Das ist interessant. Ich sehe da gerade die Verbindung nicht, aber vielleicht können Sie mir das erklären“ oder „Können wir danach separat nochmals darüber reden, das ist ein interessanter Punkt.“ Der eine Stil unterdrückt sofort, oft nicht einmal bewusst und absichtlich. Der andere Stil fördert eine Kultur der Offenheit. Das trainiert man als Coach dann auch mit den Führungskräften. Um an solchen Dingen arbeiten zu können, sitzt man dann als Berater in den Meetings oder Büros, um diese Interaktionen zu erkennen. Führungskräfte haben hier ja oft das Problem, dass ihnen niemand sagt, wenn sie die Kreativität und damit Leistungsfähigkeit ihrer Teams (unwillkürlich) beschädigen. In One-on-One-Settings wie einem Executive Coaching hört und sieht man das auch nicht. Da können solche Blindspots nicht gefunden und gelöst werden. Deshalb mische ich mich persönlich gerne unter die Leute, sitze in Meetings dabei usw.

xBN: Was passiert dann beim Menschen unter den skizzierten, geeigneten Rahmenbedingungen: Also wie organisiert das Gehirn Kreativität? Was passiert da im Gehirn, wenn wir kreativ sind?

Karl Testor: Es gibt das sogenannte laterale Denken, das „seitliche“ Denken. Dabei geht es darum, dass man sich bemüht, Bereiche zu verknüpfen, die normalerweise nicht unmittelbar assoziiert werden. Kreative machen das automatisch oder unwillkürlich. Das sind aber Dinge, die man trainieren kann. Das heißt, ich kann bewusst sagen, ich habe hier ein Thema A und ein Thema B, die normalerweise nichts miteinander zu tun haben. Dann setze ich mich hin und überlege, wo es Ähnlichkeiten gibt. Wo sind sie auch komplett unterschiedlich? Und allein mit solch einfachen Prozessen lassen sich Verbindungen schaffen und ein kreativerer Mentalzustand erreichen. Diese einfache Methode lässt sich auch für das Finden von Lösungen verwenden, die nicht so auf der Hand liegen. Das ist das, was wir über den Vorgang wissen. Wie es konkret im Gehirn ausschaut, ist wissenschaftlich schwierig zu sagen. Es gibt nicht einmal eine eindeutige Definition darüber, was eigentlich ein Gedanke ist. Oder: Was ist Bewusstsein? Das können wir empirisch nicht klar definieren und auch nicht feststellen, lokalisieren. Und die Frage ist, ob wir es jemals wirklich können werden. Bezogen auf die Kreativität ist dazu schon viel gemacht worden. Man hat Gehirnaktivitäten gemessen, während jemand kreativ ist. Dazu gibt es invasive und nicht-invasive Methoden, meist mit bildgebenden Verfahren. Da konnte man feststellen, dass bei kreativen Leistungen verschiedene Gehirnbereiche intensiver miteinander interagieren und eine höhere Aktivität haben als in nicht-kreativen Settings. Die Frage dabei ist immer, wie lässt sich dieses Wissen in der Praxis nutzen? Wie können wir also Kreativität und die dazu gehörenden Prozesse fördern? Das Denken kann man ja bewusst lenken, und deshalb lassen sich durch Vernetzungsdenken aktiv Themenbereiche miteinander verbinden, die sonst nichts miteinander zu tun haben. Diese Vernetzungen schaffen neue Verbindungen und Aktivität. Gelernte neuronale Verbindungen sind jene, die häufiger genutzt werden. Das sind die Prozesse im Gehirn, die weniger Energie verbrauchen. Neue Gedanken oder Verbindungen benötigen typischerweise ein höheres Erregungsniveau, also sie brauchen mehr Energie, um aktiviert zu werden. Leichter werden jedoch die energieärmeren Prozesse beschritten. Dabei schafft ständiges Lernen eine erhöhte Dichte an Neuronen, wodurch die Vernetzungen effizienter werden. Das sieht man etwa in Berufen, wo man ständig Neues lernen muss – ganz unabhängig davon, welche Art der Arbeit das ist, etwa Medizin oder Taxifahren. Wir sprechen hier allerdings von Taxifahrern in London. Diese mussten früher zum Erhalt der Lizenz das gesamte Straßennetz Londons auswendig wissen, was eine enorme kognitive Aufgabe ist. In Studien wurden die Gehirne dieser Taxifahrer untersucht und dabei zeigte sich, dass diese im Bereich der Orientierung und räumlicher Merkfähigkeit ein wesentlich dichteres und besser vernetztes Neuronen-Netzwerk aufwiesen als Busfahrer. Busfahrer mussten nämlich nur deren Strecken kennen, nicht die ganze Stadt. Das sprichwörtliche „Taxifahrer-Gehirn“ ist deswegen übrigens ein klassisches Beispiel in der Neurowissenschaft. Damit wissen wir, dass unsere Neuronen in unseren Expertise-Feldern nicht aktiver sind als andere, sondern weniger aktiv! Sie sind dichter vernetzt und es geht leichter, dort etwas zu „finden“. Das heißt, wir können dort mit weniger Energie mehr Informationen abrufen – allerdings leichter das Immergleiche, also weniger kreativ. Ein ähnliches Ergebnis gibt es übrigens für Menschen mit einem hohen IQ, deren Gehirn im Gesamten effizienter zu sein scheint.

xBN: Bedeutet das, dass man Kreativität anleiten kann? Wenn man sagt, versuchen wir einmal dieses Problem umzulegen auf eine andere Branche, umzulegen auf eine andere Situation, wie Peter Drucker das auch vorschlug?

Karl Testor: Ja, dazu gibt es eine Menge Interventionstechniken. Man kann andere und sich selbst anleiten, Kreativität zu entwickeln. Sich selbst anzuleiten ist möglich, von jemand anderem angeleitet zu werden funktioniert aber meist besser. Man steht auch bei Kreativität oft im eigenen „Wald“. Wahrscheinlich ist Coaching deshalb so effektiv.

xBN: Um auf den Fall zurückzukommen, dass die ChatGPT, konkret die GPT-4, mit einem top Ergebnis auf Kreativität getestet wurde. Kann man Kreativität eigentlich testen?

Karl Testor: Es gibt eine Reihe von Kreativitätstests. Sie teilen, so wie im übrigen IQ-Tests auch, die Gesamtbevölkerung in ein Spektrum ein, also in eine Verteilung. Wir haben wenige Tests, die so valide sind wie ein IQ-Test, vor allem was die Vorhersagekraft betrifft. Ein IQ-Test mit einem Ergebnis von zum Beispiel 130 und höher, definiert nicht die genaue Zeit, die Person für das Lösen eines Logikrätsel benötigt. Das Ergebnis sagt uns: was diese Person schafft, schaffen maximal (!) zwei Prozent der Gesamtpopulation. Wir referenzieren den IQ damit indirekt immer auf eine Rückrechnung der Gesamtleistung einer Gesellschaft bezogen auf den Test. Was man nicht wirklich so messen kann, ist Kreativität. Das liegt daran, dass Intelligenz über IQ-Tests unabhängig von der subjektiven Bewertung anderer Menschen definiert ist, Kreativität aber zum Teil von der Wahrnehmung anderer abhängt. Als Beispiel für einen Kreativitätstest kann man fragen: Was kann man mit einem Ziegelstein tun? Probanden schreiben nun alle Möglichkeiten auf, die ihnen dazu einfallen. Das vergleicht man dann mit den Leistungen anderer Personen hinsichtlich der Anzahl sowie der Vielfalt der gefundenen Möglichkeiten. Doch welche Möglichkeiten lässt man zu? Scheidet man „unrealistische Ansätze“ aus? Beim Logikrätsel gibt es genau eine Lösung. Die ist richtig oder falsch, sofern die Erstellenden korrekt arbeiteten. Bei der Kreativität ist das genau nicht so. Hier ist ja gefragt, wie man möglichst viele verschiedene Lösungen finden kann. Kreativitätstests messen die Leistung damit anders, weniger eindeutig. Bei IQ-Tests gibt es für eine Aufgabe auch eine konkrete, eindeutige Lösung. Bei Kreativität gibt es keine bestimmte Lösung. Zusätzlich kann man sagen, wenn man länger bei einem Thema bleibt, wird einem mehr einfallen. Das heißt auch, Zeitdruck ist ein Faktor. Dieser zeigt, dass jene Personen kreativer sein dürften, die in kürzerer Zeit mehr Varianten aufbringen. Das eine ist aber nun das Ergebnis bei einem solchen Test, das andere ist die Prädiktion, die Vorhersagequalität. Wenn jemand bei einem solchen Kreativitätstest erfolgreich ist, lässt das keinen sicheren Schluss darüber zu, ob diese Qualitäten auch in der echten Welt umsetzbar sind. Damit können wir nicht wirklich sagen, was dieser Test eigentlich wirklich misst. IQ-Tests zeigen hier schon eine längere Evidenz bezogen auf Erfolg Lebensqualität.

xBN: Bedeutet das, der Kreativitätstest, der mit der GPT-4 gemacht wurde, ist schwierig zu generalisieren?

Karl Testor: Das Ergebnis wird schon stimmen, dass GPT-4 bessere Ergebnisse lieferte, als die Studierenden. Aber Achtung, denken wir an das Ziegelsteinbeispiel. Dass eine KI hier schneller mehr Varianten liefern kann, ist nicht überraschend. Die Probleme haben wir bei der Vorhersagekraft. Also kann man mit dem Kreativitätstest einen da Vinci von einer anderen Person unterscheiden? Genau das ist die Frage. Wenn das gelänge, dann wären solche Testverfahren sehr gut. Wenn diese Unterscheidung nicht klar ist, dann sind diese Vorhersagen nur sehr limitiert möglich. Und den Anschein dürfte es haben, soweit ich die Testliteratur in dem Bereich kenne. Beim IQ-Test ist das anders. Da kann man sagen, Personen mit einem höheren IQ haben bei bestimmten Aufgaben eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit. Es gibt eine weitere wunderbare Theorie, die sogenannte Grenzschwellenwerttheorie. Dabei fragte man Peers in einer Wissenschaftsdisziplin oder einem Arbeitsfeld, wer in diesem Gebiet die hochkreativen Leute waren. Mit diesen Personen wurden dann IQ-Tests gemacht. Diese IQ-Tests haben gezeigt, dass die meisten von ihren Peers als hochkreativ bezeichneten Leute einen IQ zwischen 120 und 130 hatten. Bemerkenswert, nicht wahr? Bei den Ergebnissen hat es nur zwei Ausnahmen gegeben. Das waren Mathematiker und theoretische Physiker. Bei denen erreichten die hochkreativen Leute einen IQ 145 plus.

xBN: Das erklärt einiges. Was sagt uns das über das Verhältnis von IQ und Kreativität?

Karl Testor: Suchen wir einen grundlegenden Erklärungsansatz. Sehen wir uns einmal einen IQ-Test an. Da geht es darum, Schemata zu erkennen, und das schneller als andere. Kreativität bedeutet aber, aus einem Schema auszubrechen. Auf eine Weise ist es das Gegenteil.

xBN: Das klingt sehr plausibel, vielen Dank. Kann aus Ihrer Sicht eine KI nun kreativ sein oder nicht? Die aktuell verfügbaren Modelle können ja offenbar sehr gut Bereiche verbinden, die sonst nicht verbunden sind, und von der gesamtgesellschaftlichen Beurteilung kann man wahrscheinlich schon sagen, dass die Ergebnisse überwiegend als kreativ wahrgenommen werden. Im Zuge der Tests an der Universität Montana ist ja diskutiert worden, ob es nun nötig wird, die Kriterien für Kreativität zu ändern, weil „eine KI nicht kreativ sein darf“. Was halten Sie von dieser Diskussion?

Karl Testor: Das kann nur jemand sagen, der Kreativität nicht verstanden hat. Wenn wir ein Set von Kriterien haben, und das dann ändern, nur weil uns Testergebnisse nicht in den Kram passen, würde das doch hervorragend unseriös wirken, nicht wahr? Das ist der Punkt. Es wäre auch schade, weil wir damit ja das Potenzial verlieren, dass da drinsteckt. Es stört ja auch nicht, ganz im Gegenteil. Statt gekränkt zu sein, sollten wir das Potenzial nutzen. Ich hatte in der Schule ab der Oberstufe einen Taschenrechner, der konnte z.B. Parabeln zeichnen. Man musste nur die Formel eingegeben. Was daran so toll war? Wir konnten viel mehr Zeit mit dem verwenden, was wirklich interessant ist. Wir lernten Parabeln und deren Funktionen, indem wir verschiedene vergleichen konnten. Wir rechneten Differenziale und verwendeten nicht mehr viel Zeit dafür, hunderte gleichartige Rechenvorgänge händisch herunterzurechnen und zu zeichnen. Das Zeichnen kostet ja Zeit. Man lernt das einmal, damit man versteht, wie das funktioniert. Danach kann man sich die Zeit eigentlich sparen. Ich konnte denken lernen, dieses abstrakte Denken verinnerlichen, weil ich nicht jeden Graph zeichnen musste. Das ist doch ein Gewinn für uns. Als so etwas sollten wir auch KI-Instrumente sehen. Auch bei der Kreativität kann man sich Arbeit abnehmen lassen. Scheinbar generiert KI Lösungen, die uns selbst nicht unmittelbar einfallen. Beim Schach oder auch beim Spiel Go haben wir diese Einsichten übrigens schon länger. Gewisse Spielzüge waren neu und erfolgreich. Das ist ja unsere Definition von Kreativität.

xBN: Wir haben kürzlich diskutiert, als wir ein Bild von der KI Midjourney für einen Vortrag machen ließen, ob deswegen eine Grafikerin oder ein Grafiker um den Auftrag umgefallen ist. Nein – man hätte für eine Powerpoint in den meisten Fällen eine Illustration nicht extra von der Grafik anfertigen lassen. Aktuell ist es aber so, dass Präsentationen vielleicht ansprechender, interessanter, schöner und kreativer (!) werden als sie es davor waren. Werden wir mit KI auch selbst kreativer?

Karl Testor: Wir haben bisher nur davon gesprochen, was Kreativität sein kann, wie man das definiert usw. Der kreative Prozess selbst ist mehr. Es gibt verschiedene Zugänge dazu, aber die meisten Modelle gehen in eine Art Kreationsphase, wo zuerst Ideen generiert werden. Bei einem Brainstorming werden verschiedene Dinge ausprobiert. Ein wichtiger Punkt in dieser Kreationsphase ist, sie offen zuzulassen und Ideen nicht zu bewerten, weil Wertung den kreativen Prozess einengt. Dann kommt eine Evaluationsphase, in der die interessanten Konzepte und Ideen herausgefiltert werden, die dann in die Umsetzung gehen. Da gibt es verschiedene Modelle, sogar zwölfstufige Varianten davon, die in ähnlichen Formen iterativ den Ideenfindungsprozess wiederholen und dann die besten Ergebnisse herausfiltern und implementieren.

xBN: Das erinnert an den Design-Thinking-Prozess.

Karl Testor: Design-Thinking lässt sich auf die Kreativitätsforschung zurückführen. Diese definierten Prozesse gibt es schon seit dem 17., 18. Jahrhundert und auf andere Art auch schon früher, wie Künstler oder Kreative gearbeitet haben. Man hat das beobachtet und davon Modelle abgeleitet, um Kreativität zugänglicher zu machen und zu replizieren.

xBN: Das heißt, Ihr Ansatz wäre, dass die Menschen durch KI nicht weniger kreativ werden, sondern kreativer?

Karl Testor: Genau. Plötzlich können Menschen kreativ sein, auf neue Dinge kommen, auf die sie von selbst gar nicht gekommen wären. Das muss dann strukturiert oder mit Können in eine Umsetzung gebracht werden. Im Idealfall würden wir dieses Denken schulen, also das Zulassen und Aushalten-Können, dass ein erstes Ergebnis noch nicht die Krönung ist. Man muss weiter daran arbeiten, verwirft, und muss mit einer Haltung von Freude und Neugier mitunter neu beginnen. Bedenken wir, dass wir davor vielleicht noch viel länger an einer Präsentation herumgebastelt hätten, vielleicht mit einem viel weniger kreativen Ergebnis.

xBN: Was können Führungskräfte tun, um ihren Teams diesen Zugang zu mehr Kreativität zu ermöglichen – außer sich zuerst selbst diesem Prozess auszusetzen?

Karl Testor: Der Einfluss von Führungskräften auf das kreative Potenzial und die Leistungsfähigkeit ihrer Teams wird immer noch unterschätzt. Leistung und Potenzial einer bestehenden Gruppe sind kein Fixum. Führungskräfte gestalten Organisationskultur. Ich sage jetzt auch bewusst Organisations-, nicht Unternehmenskultur, denn auch in einem Sub-Element schaffe ich durch meine Handlungen als Führungsfigur eine bestimmte Kultur, die als Ergebnis meines Führungshandelns dann vorhanden ist. So wie bei Sport-Coaches hängt die Leistung davon ab, wie gut oder ungeeignet die Führung interveniert. Führungskräfte können viele verschiedene Bereiche beeinflussen. Das sieht man besonders stark bei einem Führungskräftewechsel. Ein hochkreatives Team verstummt plötzlich oder umgekehrt.

xBN: Was machen diese Personen anders, die kreative Settings schaffen?

Karl Testor: Sie fördern. Die sagen: „Hey, coole Idee.“ Das sagen sie, wo immer es passt auch zu allen, nicht nur zu Günstlingen. Und das macht etwas mit den Leuten. Das dürfen wir nicht unterschätzen, wir sind soziale Wesen. Auf Maslows Bedürfnis-Hierarchie ist die dritte Stufe das Soziale. Das ist für uns ein unterbewusster Überlebensaspekt. Wenn wir diesen durch Wertschätzung und Respekt absichern, nehmen wir Angst und Groll aus dem System, und das sind mit die größten Verhinderer von Leistung und Kreativität. Deshalb coache ich so gerne Führungskräfte, weil sie einer der stärksten Hebel sind. Ja, Hebel. Für alles eigentlich.

xBN: Widmen Sie unseren Leserinnen und Lesern noch eine Frage, die ihre Kreativität zu einer Herausforderung anregt, mit der sie sich gerade beschäftigen?

Karl Testor: Gerne. „Was ist der lustigste Grund, warum Sie sich mit dieser Herausforderung herumschlagen?“

xBN: (lacht) Da gibt es sicherlich eine Reihe origineller Antworten. Vielen Dank für das inspirierende und lehrreiche Gespräch.

Das Gespräch führte xBN Herausgeberin Isabella Mader.


Biografie:

Dr. Karl Vinzenz Testor absolvierte die Militärakademie und studierte Führungswissenschaften. Nach einem Einsatz in Syrien nahm er seine Studien wieder auf und promovierte schließlich zum Thema Kreativität bei einer der Koryphäen der biologischen/neurowissenschaftlichen Psychologie Prof. Dr. Giselher Guttmann.

Buchpublikationen von Karl Testor zum Thema:
Testor, Karl (2018) Kognitionstheoretische Grundlagen der Kreativität: Wie Neues im Gehirn entsteht und dadurch kreatives Denken erklärbar wird. Springer. https://www.amazon.de/-/en/Karl-Testor/dp/3658220716/

Testor, Karl (2021) Cognitive Theoretical Foundations of Creativity: How Creativity Evolves in the Mind. Springer. https://www.amazon.de/-/en/Karl-Testor/dp/3030617351

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