Die österreichische Industrie steht vor großen Herausforderungen. Hohe Produktionskosten, insbesondere im Vergleich zu unseren Nachbarländern, zwingen viele Unternehmen zur Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland. Im exklusiven Interview mit xBN warnt Wilfried Sihn, Professor an der TU Wien und ehemaliger Geschäftsführer von Fraunhofer Austria, vor den dramatischen Folgen dieser Entwicklung.
Herr Professor Sihn, wie schätzen Sie die derzeitige Lage der heimischen Industrie ein?
Die Stimmung in der Industrie, und hier spreche ich ausdrücklich nur von der Industrie, nicht von der Wirtschaft insgesamt, ist derzeit auf einem Tiefpunkt. Das hat jedoch wenig mit externen Faktoren wie dem Ukraine-Konflikt oder dem aktuellen Konjunktureinbruch zu tun – solche Zyklen sind den Unternehmen vertraut. Vielmehr haben wir es über viele Jahre hinweg, und besonders in den letzten drei Jahren, geschafft, unsere Wettbewerbsfähigkeit drastisch zu verschlechtern.
Das führt zu weitreichenden Konsequenzen: Von zehn Unternehmen, die ich kenne, betrifft es acht, die sagen, sie haben hervorragende Leistungsangebote und Produkte sowie deutliche Wachstumspotenziale – allerdings nicht mehr in Österreich. Stattdessen werden sie ihr Wachstum an ihren ausländischen Standorten realisieren. Jeder größere Mittelständler betreibt inzwischen Werke in Ländern wie Tschechien, Kroatien oder Serbien. Dort können sie die Chancen nutzen, weil die Produktionskosten in Österreich einfach zu hoch sind. Mit diesen hohen Kosten sind wir in Österreich nicht mehr wettbewerbsfähig. Das bedeutet, dass die heimischen Standorte in puncto Mitarbeiterzahlen schrumpfen werden. Das Wachstum der österreichischen Unternehmen wird sich im Ausland abspielen, während die industrielle Basis in Österreich zurückgeht.
Was müsste in Österreich geschehen, um diesen Trend aufzuhalten?
Man kann einiges dagegen tun, aber das ist nicht von heute auf morgen möglich. Ein Beispiel: In den letzten 20 bis 30 Jahren gab es im Vergleich mit Deutschland, unserem Hauptexportland, bei den Lohnkosten stets ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Mal lagen die Löhne in Deutschland um ein halbes Prozent höher, mal in Österreich. Doch in den letzten drei Jahren hat sich die Situation dramatisch verändert – in Österreich sind die Lohnkosten im Vergleich zu Deutschland um 15 Prozent gestiegen. Diese Entwicklung kann man nicht kurzfristig umkehren, aber wir wissen seit langem, dass unsere Lohnnebenkosten viel zu hoch sind. Besonders gravierend sind jedoch unsere Energiekosten, die im internationalen Vergleich deutlich über dem Durchschnitt liegen.
Es gibt durchaus verschiedene Ansätze, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, aber das wird nicht von heute auf morgen gelingen. Es bedarf einer Regierung, die die Problematik erkennt. Hier passt der Spruch, der leider zutrifft: „Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung.“ Wenn die Politik glaubt, dass wir uns lediglich in einer konjunkturellen Krise befinden, die von selbst vorbeigeht, dann hat sie das eigentliche Problem nicht verstanden.
Aber große Hoffnungen habe ich derzeit nicht. Selbst wenn die neue Regierung beginnt, in die richtige Richtung zu agieren, wird es voraussichtlich zwei bis drei Jahre dauern, bis wir erste spürbare Veränderungen sehen. Über Nacht ist definitiv keine Besserung zu erwarten.
Wie sieht es denn mit der Produktionsleistung in Österreich aus?
Produktivität ist bei uns ein zentrales Thema, da unsere einzige Chance, wettbewerbsfähig zu bleiben, darin besteht, effizienter zu sein als andere. Angesichts der höheren Kosten müssen wir diesen Nachteil durch eine gesteigerte Produktivität ausgleichen. Das bedeutet, dass wir stark in Digitalisierung, künstliche Intelligenz und Innovation investieren müssen. Es ist daher entscheidend, unser technologisches Know-how auszubauen und das vorhandene Wissen gezielt zu stärken. Die modernen Möglichkeiten, die uns heute durch Digitalisierung und den Einsatz von künstlicher Intelligenz zur Verfügung stehen, müssen wir intensiv nutzen und strategisch einsetzen.
Wir müssen die PS, die wir zweifellos haben, konsequent und schnell auf die Straße bringen. Doch in der Realität geht das nicht so einfach. Ähnlich wie bei anderen Themen hängt der Erfolg davon ab, dass die Regierung die nötigen Grundlagen schafft, um diesen Prozess in Gang zu setzen – sei es durch Investitionsförderungen oder andere Maßnahmen. Aber wenn man sich unser aktuelles Haushaltsdefizit ansieht, stellt sich natürlich die Frage: Wo soll das Geld dafür herkommen?
Nachhaltigkeit und hohe Energiekosten sind derzeit ebenfalls zentrale Themen, insbesondere im Zusammenhang mit ESG-Richtlinien und möglichen EU-Vorgaben. Wie bewerten Sie dieses Thema?
Nachhaltigkeit bietet zweifellos Chancen, allerdings mit einem langen Vorlauf. So müssen in den nächsten zwei Jahren fast alle Unternehmen, mit Ausnahme kleinerer Betriebe, in ihrem Geschäftsbericht auch einen Nachhaltigkeitsbericht vorlegen. Dies wird vielen erst bewusst machen, dass sie sich intensiver mit dem Thema auseinandersetzen müssen. Allerdings liegt der Fokus bei den meisten derzeit noch auf der reinen Dokumentation – die gewonnenen Erkenntnisse werden noch nicht konsequent in Maßnahmen umgesetzt, um wirklich nachhaltig zu werden.
Generell ist Nachhaltigkeit absolut notwendig und sinnvoll, das steht außer Frage. Allerdings dürfen wir in Österreich nicht den Fehler machen zu glauben, dass wir allein die Welt retten können. Wenn wir Gesetze erlassen, die unsere Unternehmen zu Nachhaltigkeit verpflichten und dies immense Kosten verursacht, riskieren wir, unsere Wirtschaft zu schwächen, ohne einen signifikanten globalen Beitrag zu leisten. Nachhaltigkeit muss daher mit Augenmaß angegangen werden. Denn wenn unsere Wettbewerber in Nachbarländern diese Kosten nicht haben, verlieren wir weiter an Wettbewerbsfähigkeit. Nachhaltigkeit ja – aber unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Tragfähigkeit.
Sind hier die regulatorischen Anforderungen eine Hemmschwelle?
Es ist klar, dass solche Vorgaben immer existieren werden, doch das aktuelle Übermaß – nach dem Motto „Wir müssen Nachhaltigkeitsvorreiter sein und der EU zeigen, wie es geht“ – mag politisch gut verkaufbar sein, hilft der Wirtschaft jedoch nicht. Vielmehr verursacht es zusätzliche Kosten, die letztlich auf die Produkte und Verkaufspreise umgelegt werden.
Innovation und Digitalisierung hier Abhilfe schaffen. Sie sind entscheidend, um die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, aber auch diese Maßnahmen erfordern erhebliche Investitionen. Um Innovationshürden zu überwinden, muss der Zugang zu Fördermitteln erleichtert und der Anreiz geschaffen werden, dass Unternehmen aktiv investieren können.
Letztlich geht es um ein ausgewogenes Vorgehen im globalen Kontext. Es bringt nichts, wenn wir uns in Österreich wirtschaftlich schwächen, nur um extrem nachhaltig zu sein. Dann stehen wir am Ende mit hoher Arbeitslosigkeit und einem großen Budgetdefizit da – und haben dennoch keinen nennenswerten Beitrag zur Rettung der Welt geleistet, weil unser Einfluss schlicht zu gering ist.
Auch der Themenkomplex rund um das E-Auto wird derzeit diskutiert.
Wenn wir über das Auto sprechen, speziell über die Elektromobilität, ist klar, dass diese Entwicklung nicht mehr aufzuhalten ist. Allerdings erleben wir derzeit eine Verunsicherung in der Bevölkerung, die durch politische Aussagen verstärkt wird. Die Idee der E-Fuels mag theoretisch und technisch machbar sein, aber praktisch sind sie keine nachhaltige Lösung. Die verfügbaren Mengen an Bio-Fuels werden schlichtweg nicht ausreichen, und die bestehenden Kapazitäten werden dringend in anderen Bereichen benötigt.
Die Elektromobilität wird sich aber durchsetzen, auch wenn die europäischen, insbesondere die deutschen Hersteller, hier eine strategische Fehlentwicklung hinter sich haben. Sie haben in den letzten Jahren Elektrofahrzeuge gebaut, die technisch hinterherhinken – veraltete Batteriesysteme und fehlende eigene Batteriefabriken sind die größten Probleme. Im Gegensatz dazu besitzen Unternehmen wie Tesla und BYD ihre eigenen Batteriefabriken, was ihnen einen klaren Vorteil verschafft. Gegenwärtig profitieren die deutschen Hersteller jedoch von der zunehmenden Nachfrage nach Verbrennern, da diese mehr Gewinne abwerfen als Elektrofahrzeuge. Gleichzeitig verschafft ihnen das einen zeitlichen Puffer von ein bis zwei Jahren, um neue Modelle zu entwickeln, die auf dem neuesten Stand der Technik sind – inklusive moderner Batteriesysteme und fortschrittlicher Assistenzsysteme.
Auch wenn die Einführung der Elektromobilität nicht so schnell voranschreitet, wie es sich die Politik ursprünglich vorgestellt hat, wird sie kommen. Wir werden wahrscheinlich eine Verzögerung von etwa drei Jahren sehen, aber der Übergang ist unumgänglich, was auch durch die enormen Investitionen der Automobilindustrie in Milliardenhöhe belegt wird.
Könnte diese Entwicklung dazu führen, dass Produktionen nach Österreich zurückkehren und dadurch Chancen für den Standort entstehen?
Absolut. Wir haben dazu eine Studie gemacht, die zu dem Ergebnis kommt, dass wir, wenn wir die richtigen Maßnahmen ergreifen, die Chance haben, mehr als 10.000 neue Arbeitsplätze zu schaffen. Natürlich werden wir in Bereichen wie Motoren, Auspuffanlagen und Abgassystemen viele Arbeitsplätze verlieren, aber durch neue Technologien – insbesondere Batterietechnologien und Steuerungstechnik, in denen Österreich sehr stark ist – können tausende neue Arbeitsplätze entstehen. Das setzt jedoch voraus, dass wir auch in die Qualifizierung der Mitarbeiter investieren, denn es werden ganz andere Kompetenzen benötigt.
Der Technologiewandel bietet viele Chancen, die man aktiv nutzen muss. Es hat in der Vergangenheit immer technologische Umbrüche gegeben, und anstatt zu klagen, sollten wir diese Möglichkeiten ergreifen und vorantreiben.
Vielen Dank für das Gespräch!