Die EU wollte 2024 Bürokratie abbauen und Wettbewerbsfähigkeit steigern – und erreichte das Gegenteil

Dem Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission durften wir erwartungsfroh entnehmen, dass das Jahr 2024 Bürokratieabbau um 25 Prozent bringen sollte und Initiativen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Zur Halbjahresbilanz 2024 kann gesagt werden: Schwach angefangen, stark nachgelassen. Die Prognose zum Jahresende 2024: Es wird geradezu das Gegenteil des proklamierten Programms erreicht werden.

Kommentar der Herausgeberin

Woher kommt Bürokratie eigentlich?

Der vielfachen Wahrnehmung, dass Bürokratie im Wesentlichen daher käme, dass sich Behörden Formulare ausdenken, sei hier gleich zu Beginn widersprochen. Bürokratie kommt daher, dass der Gesetzgeber Gesetze erlässt, die von Behörden umzusetzen sind. Ein weiterer Teil von Bürokratie dient eigentlich der effizienten Bearbeitung von Eingaben und kann mit Prozessmanagement übersetzt werden. Würde jeder Antrag formfrei, manchmal romanartig in epischer Breite, ein anderes Mal sträflich um relevante Details verkürzt, bei der Behörde eingehen, würde dies den Aufwand der Bearbeitung hoffnungslos eskalieren. Bis zu einem gewissen “Break Even” sind also Prozesse und Formulare für alle Beteiligten sinnvoll. Über diesem Schwellenwert wirken zu kleinteilige Regularien und Prozesse aber verlangsamend statt effizienzsteigernd. In manchen Fällen können zusätzliche Regularien dennoch sinnvoll sein, wenn sie beispielsweise die Sicherheit oder die Qualität der generierten Leistungen oder Produkte erhöhen. Es kann davon ausgegangen werden, dass dieser Break-Even-Punkt von Effizienz und Qualität in der gesamten westlichen Welt komfortabel überschritten ist. Aus der Forschung zu Informationsflut ist darüberhinaus bekannt, dass zu große Informationsmengen und zu dichte Regularien ab einem Break-Even-Punkt zu mehr Fehlern und mehr Fehlentscheidungen führen. Der Mensch vermeint intuitiv, mehr und genauerer Text sowie mehr und genauere Regularien würden die Sicherheit, Qualität und Effizienz erhöhen, währenddessen kippt ab einer gewissen Menge auch dieser Punkt ins Gegenteil: Mehr Information und Regelwerk verschlechtern die Ergebnisse!*

Wie es begann

Auf der Basis einer ESG Taxonomie mit über 1.000 Kriterien könnte man meinen, nun ist es dann aber auch gut mit Berichtswesen. Also erfreute die Ankündigung der Europäischen Kommission, nach diesem “Werk” nun zum Bürokratieabbau und zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit schreiten zu wollen, das geneigte Ohr. Zum Zeitpunkt dieser Ankündigung im Oktober 2023 musste jedoch bereits bekannt sein, dass die Europäische Kommission vorhatte, die Wirtschaft Europas mit einer ganzen Batterie weiterer, neuer Rechtsnormen und Richtlinien zu beglücken. Mit Verwunderung durfte man also gespannt sein, wie ein Dutzend neuer Regularien mit umfangreichem Berichtswesen dem Bürokratieabbau dienen sollten.

Wie es läuft

Nach einem ersten, abgelaufenen Halbjahr kann mit Hermes Phettberg gesagt werden: “Das ist aber misslungen.” Während sich Phettberg auf ein Vanillejoghurt bezog, so ist im gegenständlichen Fall das Scheitern dieses von Ursula von der Leyen angekündigten Bürokratieabbau-Programms festzustellen. In der zweiten “Halbzeit” von 2024 sind der neugeschaffene Bürokratieaufwand und die Versäumnisse im Abbau von Regularien nicht mehr aufzuholen.

Was wir bisher sehen: Eine CSRD (Corporate Social Responsibility Directive), die CSDDD (Corporate Due Diligence und “Lieferkettengesetz”) ante portas, Data Act und Data Governance Act (zusätzlich zur bestehenden DSGVO), NIS 2 (Network and Information Security), DORA (Digital Operational Resilience Act – Cyber Security für den Finanzsektor), nicht zu vergessen den EU AI Act, den
DSA (Digital Services Act: Gesetz über digitale Dienste), CRA (Cyber Resilience Act), die PLD (Product Liability Directive, die neue Produkthaftungsrichtlinie), und demnächst die neue PWD (Platform Work Directive, eine Regelung für digitale Plattformen z.B. für Freelancer oder Gewerke), um nur einige wenige zu nennen. Die verschärfte Produkthaftung soll übrigens auch für Software und digitale Produkte gelten, und diese ist wegen der de facto Beweislastumkehr auch scharf kritisiert worden: Nicht der klagende Kunde muss beweisen. Nein, Hersteller müssen beweisen, dass ihr Produkt den Schaden nicht verursachte – und stehen damit vor möglicherweise anlasslos eskalierenden Rechtskosten und enormem Zeitaufwand. Die Empfehlung, um sich vorzubereiten: Dokumentieren, dokumentieren, dokumentieren! Zur Beweisführung kann es nötig sein, den Quellcode offenzulegen – für viele Hersteller die Basis ihres Geschäfts. Die CSRD stellt umfangreiche Nachhaltigkeitsberichte den Finanzberichten gleich und unterwirft sie einer Prüfung durch Prüforgane.

Nun zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit

Die Zukunft von Consultingunternehmen sieht rosig aus. Das Beratungs- und Prüfgeschäft blüht dank der umfangreichen, neuen und stetig wachsenden Reportingverpflichtungen. Aber sonst?

Die Folgekosten der Gesetzgebung

Gesetzgebung verursacht zumeist neue Bürokratie und damit Folgekosten. Lobend hervorgehoben werden kann in diesem Zusammenhang das Monitoring des Bundesamts für Statistik in Deutschland (Destatis), das laufend die Folgekosten von Gesetzgebung in einem Bürokratie-Monitor verfolgt. Die aktuellsten, verfügbaren Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2022 (siehe Grafik). Die ersten Schätzungen und Erfahrungswerte allein für die Kosten von NIS 2 Compliance liegen bei +15% der IT-Budgets, die für zusätzliche Software, Beratung und Personalaufwand anfallen. Für die Umsetzung der CSRD Richtlinie schätzt das deutsche Bundesjustizministerium, dass den betroffenen Unternehmen in Deutschland einmalige Kosten in der Höhe von 748 Millionen Euro entstehen und laufende Kosten in der Höhe von 1,4 Milliarden.

Auf der Plattform ONDEA.de können sich Interessierte über die Kosten von Gesetzgebung informieren.

Bürokratie als Inflationstreiber

Wenn NIS2 die IT Budgets um 15% erhöht, wieviel kostet die ESG Compliance und das Reporting, wieviel CSRD, der DSA und andere? Während Investitionen in den Klimaschutz, in Cybersicherheit oder soziale Verantwortung ja als Notwendigkeit kaum bestreitbar sind, so ist der Weg dahin wohl nicht so unumstritten. Sollten Investitionen statt in Reporting nicht besser in die eigentliche Umsetzung fließen? Reporting und Bürokratie fallen ja nicht direkt unter wertschöpfend – außer in der Papier- und Druckindustrie, die viele schöne Berichte drucken darf – sie sind ja haptisch dann eben doch hübscher. Aber leider nicht nachhaltiger.

Alle Unternehmen sind betroffen

Leider treffen die massiven bürokratischen Aufwände nicht – wie vielfach behauptet – nur Großunternehmen. Ihre Lieferanten sind auch die vielen kleinen und mittleren Unternehmen, oder auch Ein-Personen-Unternehmen, die jetzt bereits 17-seitige Fragebögen (beispielhaft, manchmal werden’s vielleicht nur 12 sein) ausfüllen – und zwar bei jedem ihrer Kunden einen anderen, der Einfachheit halber.

Inflationstreiber Gesetzgebung?

Gehen wir einmal davon aus, dass 20 bis 30% mehr Kosten für Administration und Reporting anfallen, wenn wir konservativ schätzen, was 10 bis 12 neue Regelungen an Mehraufwand bringen werden. Selbst wenn das Personal, das diesen Mehraufwand bestreiten wird, am Arbeitsmarkt verfügbar wäre, dann werden Unternehmen das nicht in der Kalkulation “schlucken” können, sondern auf ihre Preise aufschlagen.

Wir dürfen gespannt sein, wo die 25% Reduktion bei Bürokratie, die Ursula von der Leyen angekündigt hat, herkommen werden. Und vor allem, wie die gerade neu hinzugekommene, völlig überzogene Bürokratisierung, wieder ausgeglichen werden wird.

Agrargesellschaft, Industriegesellschaft, Dienstleistungsgesellschaft, Beratungsgesellschaft

Wenn Automatisierung und Digitalisierung die einen Jobs wegrationalisiert, dann müssen andere erfunden werden. Irgendwo müssen die Jobs ja herkommen – und die Frage, welche Jobs wir in 10 Jahren machen werden, ist inzwischen durchaus auch zum Teil geklärt: Wir werden viele Berater mit Spezialexpertise in ESG, CSRD, NIS 3 und 4, DORA, CER, DSGVO, CSDDD, CRA, DSA, PLD, PWD usw. brauchen. Wenn die künstliche Intelligenz dann inzwischen Programmierung selbst übernimmt, könnten wir Software Developer dann als Compliance Consultants umschulen. Noch weiter in die Zukunft gedacht: Können wir der KI nicht das gesamte Berichtswesen übergeben? Das wäre in der Tat eine Marktlücke. Obwohl: Wer kümmert sich bei dem massiven Reportingaufwand eigentlich um das Kerngeschäft, also um jenen Bereich, der die Brötchen des Unternehmens verdienen sollte? Zu Redaktionsschluss war dieser Punkt noch ungeklärt. Falls Sie zur Aufklärung beitragen können: Wir freuen uns über sachdienliche Hinweise unter redaktion [@] xbn.news.


Pressemitteilung zum Arbeitsprogramm 2024: https://germany.representation.ec.europa.eu/news/arbeitsprogramm-fur-2024-burokratieabbau-und-wettbewerbsfahigkeit-im-fokus-2023-10-17_de

* Roetzel, P.G. (2019) Information overload in the information age: a review of the literature from business administration, business psychology, and related disciplines with a bibliometric approach and framework development. Business Research 12, S. 483. DOI: 10.1007/s40685-018-0069-z

Statistisches Bundesamt (Destatis): Berechnung des Bürokratieaufwandes https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Buerokratiekosten/Erfuellungsaufwand/erfuellungsaufwand.html

ONDEA Online Datenbank für Kosten des Erfüllungsaufwandes: https://www.ondea.de/DE/Home/home_node.html

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